Appenzeller Strickbau von Hermann Blumer wiederbelebt
Auszug aus meinem Beitrag für „mikado“ 12-2023
Das renovierte und erweiterte Haus „Löwen“ in Gonten, Appenzell, ist Teil des Gebäudekomplexes „Appenzeller Huus“. Ab 2025 wird er sieben Holz-Gebäude umfassen: den über 400 Jahre alten „Bären“ als ältestes Haus des Ortes, gegenüber auf der anderen Straßenseite der „Löwen“. Die Bauarbeiten haben begonnen für einen Hotelneubau, eine Wellness-Destination auf 2.200 m2, ein Veranstaltungszentrum mit Altersresidenz sowie für drei Bauten mit 43 Eigentumsapartments, alle zukünftigen Bewohner und Benützer können die Hotelleistungen in Anspruch nehmen. Alles soll in der Appenzeller Strickbauweise gebaut werden. Rüssli Architekten ist Partner aller aktuellen Projekte des Bauherrn.
Ein Gespräch mit Bauingenieur und Bauherrnberater Hermann Blumer, Zimmerer Albert Manser und Felix Eugster (SJB Kempter Fitze AG, verantwortlich für Statik und Brandschutz) für das Magazin „mikado“, Ausgabe 12-2023
mikado: Herr Blumer, was waren die Herausforderungen?
Blumer: „Beim Löwen gab es verschiedene Herausforderungen. Die Kernsanierung des Altbaus hin zu den Standards eines heutigen Spitzenhotels, besonders der Schallschutz, war eine davon. Die vorgefundenen Holzwände waren in Strickbauweise erstellt, man konnte sie beibehalten. Im Appenzell gibt es eine spezielle Art, diese Strickköpfe zu fertigen mit Nuten und Zäpfchen. Es ist momentan noch schwierig diese auf der CNC-Maschine zu schneiden. Im neu erstellten Löwen-Anbau sind die Strickwände auf der Innenseite, außerhalb musste eine Isolierschicht und die Fassade aufgebracht werden damit konnten wir die Dichtigkeit und die Wärmedämmung sowie den Witterungsschutz gewährleisten. Wir benötigten die Nuten und Zäpfchen für das Abdichten in den Gebäudeecken nicht, wie es früher notwendig war. Die Eckverbindungen bei einem Strickbau erfolgen mit Schwalbenschwanzüberblattungen.“
mikado: Es gab branchenübergreifende Kooperationen.
Blumer: „Der Bauherr Jan Schoch gründete in Kooperation mit meinem Sohn Tobias die „Appenzeller Bohlenstangen AG“, die das Holz im Wald bestellt und das Rundholz zu je zwei Bohlen auf einer Sägerei auftrennt. Die 140 mm dicken unbesäumten Bohlen werden in einer dafür angeschafften Vakuum-Anlage auf die Anwendungsfeuchtigkeit von ca. 10% getrocknet. Damit werden sie zu einem Lagerprodukt. Im trockenen Zustand schneiden wir die Bohlen mit unterschiedlichen Breiten zu Wandbalken (Strickbäumen) und Deckenbalken (Dielen). Danach werden diese gehobelt und profiliert. Früher war bei einem solchen Prozess noch viel Handarbeit nötig, was heute nicht mehr rentabel ist. Danach werden die Balken „abgebunden“ sprich aufgearbeitet mit allen Bohrungen, Abschnitten und Ausblattungen.“
mikado: „Die Zimmerei Manser hat sich für diese komplexen Bearbeitungen eine neu entwickelte CNC-Maschine angeschafft.
Albert Manser: „So ist es. Über ein privates Objekt des Investors mit Hermann Blumer kamen wir zur modernen Strickbauweise, die wir aktuell für das Projekt „Löwen“-Anbau umgesetzt haben. Zur Herstellung von entsprechenden Strickbauelementen sind viele Stunden an der CNC-Maschine notwendig, da sie aufwendig zu bearbeiten sind. Und nach unseren Erfahrungen hat sich der Bauherr Jan Schoch entschlossen, eine derartige Maschine zu kaufen und wir gründeten dafür gemeinsam die „Massivholzbau Appenzellerland AG“ und stellten die Maschine (die in 15 km Entfernung von Gonten hergestellt wird) in meiner Elemente-Produktionshalle auf. Die Maschine mit sechs Motoren mit jeweils bis 4 Werkzeugbestückungen kann Bohlen bis zu einer maximalen Breite von 300 mm bohren, diese Bohrungen werden zur Einbringung der von Hermann Blumer entwickelten Dübelspanten benötigt.“
mikado: Es wurde auch eine spezielle Holztrocknungs-Anlage für dieses Projekt in Betrieb genommen.
Blumer: „Ja, eine Vakuum-Trocknungsanlage. Die bis zu 10 m langen Bohlen werden in 2 Längen in einer Vakuumkammer zuerst auf 56 Grad aufgeheizt und dann mit Unterdruck der Siedepunkt des Wassers auf 52 Grad herabgesetzt. Damit kann man die Feuchtigkeit aus dem Innern der Bohlen herausholen. Mit dieser Methode ist das Holz in 5 Tagen trocken und der Trocknungsvorgang ist schonender als die Trocknung nur mit Wärme, die etwa 20 Tage benötigt. Mit unserer Anlage können wir auch sehr dicke Bohlen trocknen.“
mikado: Herr Blumer, hat dieser aktuelle Strickbau eine Zukunft?
Blumer: „Wenn wir in Zukunft mit horizontal eingebauten Bohlen wie dem Strickbau erfolgreich sein wollen, müssen wir dessen Setzen bzw. Schwinden und Quellen unterbinden. Als Anschauung war es in Norwegen früher üblich, dass man mit horizontalen und vertikalen Systemen baute. Bei Stabkirchen ist vertikales Bauen eindrücklich zu erkennen.
In den Alpenländern wurden die Bohlen fast ausschließlich liegend verbaut, mit Ausnahme von gemischten Bohlen-Ständersystemen. Bei vertikalen Bohlen setzt sich der Bau nicht, aber horizontal können sich Fugen auftun. Wichtig ist, wie bei all den tradierten Verfahren, ein modernes Planen und Konstruieren. Im Löwen-Anbau wurden Spanten wie im Schiffsbau eingesetzt, dafür haben wir die Bohlen durchbohrt. Unser System ist also mit Spanten stabilisiert, so dass sie in der Höhe und Breite dimensionsstabil sind und steife Scheiben ähnlich dem Brettsperrholz bilden. Das ist unabdingbar da wir heute Lifteinbauten haben und auch die Haustechnik stellt Anforderungen an die Dimensionsstabilität. Auch Fenster und Türen sind mit ihrer Anbringung durch die Setzung der Wände schwieriger zu dämmen und abzudichten. Für den Anbau des Löwens wurden Wände über das Eck im Werk vorgefertigt, ebenso wurden Bodenelemente, Treppen, Gauben und gar der Aufzugsschacht in Brettsperrholz in der Werkstatt zu Elementen zusammengebaut. Das über den Saal gespannte Tragwerk wurde als Joch aus vorfabrizierten Einzelteilen auf der Baustelle stockwerksweise ineinandergefügt.
mikado: Wie ressourcen-schonend ist der Strickbau?
Blumer: „Beim Strickbau können wir ziemlich genau 50% des im Wald geschlagenen Rundholzes zu fertig eingebauten Strukturen nutzen, beim Brettschichtholz und Brettsperrholz sind das infolge der vielen Schnitt- und Hobelprozesse ca. 33 %. Das ist zukünftig zur Schonung von Ressourcen bedeutsam.“
Albert Manser: „Für uns ist es eine Herausforderung, den Strickbau so umzusetzen, dass er funktioniert und zusätzlich bezahlbar ist. Er ist vom Arbeitsaufwand aufwändiger als heutige Skelett- und Rahmenbauweisen, wir befinden uns noch in den Kinderschuhen dieser Wiederbelebung. In den Räumen des „Löwen“ sieht man, wie perfekt das neue System geworden ist und wie es optisch und funktional auf den Benutzer wirkt.
mikado: Herr Manser, wie beurteilen Sie den hier zu besichtigenden Strickbau?
Manser: „Zusammen mit Hermann Blumer, bei dem ich 1978 bis 1981 meine Lehre gemacht habe, haben wir das aktuell sehr gut gelöst.“
mikado: Herr Eugster, Sie sind Partner des Ingenieurbüros SJB Kempter Fitze AG, bei dem Hermann Blumer Gründungspartner war. Das Büro ist für die Gesamtüberbauung „Bären“ und „Löwen“ für die Statik und den Brandschutz zuständig. Was sagen Sie zum „Löwen“?
Felix Eugster: „Aus meiner Sicht macht der Strickbau das Holz mehr erlebbar als in einem sonstigen Holzbau“.
Sanierung des „Löwen“
Herausforderungen bei der Sanierung des denkmalgeschützten „Löwen“ waren, so Blumer, Brandschutz und Schallschutz.
„Beim Holzbau haben wir eine Qualitätssicherung vom Brandschutz in der Planung bis zum Ende. Beton- und Stahlbauer sind diesbezüglich noch am Aufholen.
Die Umsetzung war bei diesem Objekt besonders schwierig, denn der Fluchtweg vom Neubau geht über den Altbau mit der Anforderung nicht brennbarer Oberflächen. Im Neubau, so hieß es, müssten die Flure nicht brennbar verkleidet sein. Damit wäre der Charme des Holzbaus zunichte gemacht worden“, führt Blumer aus.
Manser ergänzt: „Es wurden an einzelnen Orten, wo es nicht anders ging, Gipsplatten eingesetzt, die mit dünnen Furnieren dann auch einen Holzausdruck bekamen.
Und Eugster stellt fest: „Beim Brandschutz im Strickbau ist der Fluchtweg der heikelste Punkt, weil dort per se die Oberfläche als nicht brennbar definiert wird. Hier war auch der Denkmalschutz eine Herausforderung im Altbau. Per Norm war es nicht möglich, die Strickwände sichtbar zu lassen. Wir mussten daher eine spezielle Lösung finden, dass es aus Sicht der Gebäudeversicherer möglich war, den Fluchtweg teilweise mit den Strickwänden sichtbar zu belassen. Das ließ sich in Zusammenarbeit mit den Behörden lösen. Dafür bekam der Bauherr die Auflage, keine brennbaren Gegenstände, auch keine Bilder, dort zu platzieren.“
Beim Rundgang durch den Altbau bemerkte Manser: „Wir haben einige Ergänzungen gemacht, die sich dem „Alten“ nicht mehr bemerkbar anpassten. Das war die größte Leistung. Die etwa 30 mm starken massiven alten Bodenbretter in Fichte sind von uns in der Werkstatt aufgearbeitet worden und dann wieder eingebaut. Ob die alten Strickwände aus Mondholz bestehen, ist nicht mehr feststellbar, sie wurden belassen. Die Außenwände wurden innen wärmegedämmt und neu verkleidet, es musste so aussehen wie früher mit schlichter Täfelung.“
Spezielle Schallschutzverbesserungen im Altbau
Besonders aufwändig war die Ertüchtigung der Zwischendecken betreffend Schallschutz.
Dazu Blumer: „In den Appenzeller Bauten hatten wir früher Dielenböden, manchmal bis 7 m gespannt und bis 80 mm dick waren. Das ist mit unter 40 dB luftschalltechnisch wie auch beim Trittschall für ein Hotel absolut ungenügend. Für die Luftschallisolation sind über 60 dB gefordert, daher muss eine Beschwerung in die Decke eingebracht werden, dazu brauchte es Platz. Die klassischen Appenzeller Stockwerkshöhen lagen bei etwa 1,90 m, hier waren es mehr. Glücklicherweise hatten wir beim Altbau, was im Appenzellerland nicht üblich war, eine Balkenlage mit ausreichender Konstruktionshöhe. Mit Sand zwischen den Balken und einem Überbau mit Gipsplatten konnten die schalltechnischen Anforderungen in etwa erreicht werden und es hatte noch Platz für die Bodenheizung.
In Neubauten plant man heute für Holzdecken mit Bodenbelag mit einer Gesamtstärke von 400 mm. Dies konnten wir im Anbau so umsetzen. Da die unterste Lage der Decke eine 120 mm Bohlenschicht ist, kann diese nur eine geringe Spannweite von maximal 3 m überbrücken. Also habe ich als Fan von Arthur Vierendeel, einem belgischen Bauingenieur (1852–1940) der „Fachwerke“ ohne Diagonalen in Stahl entwickelte, seine Idee aufgegriffen. Eine Umsetzung in den Holzbau gab es bisher nur ansatzweise, die biegesteifen Schubverbinder waren die Knacknuss. Mit Versuchen in eigener Regie kamen wir der Lösung schrittweise näher und konnten die statischen Nachweise darauf abstimmen. Wir haben für die Deckenelemente als Vierendeel-System mit Platz für die Beschwerung und die Haustechnik gebaut. Unten bilden die Dielen als verdübelte Platten die Decke, darüber wurden Obergurten in Abständen angeordnet, dies wurden mit Schublaschen in Abständen mit den unteren Dielenplatten verbunden. Zwischen den abgehobenen Obergurten, auf denen man gehen kann, hat man nun die die Beschwerung und die Haustechnik nachträglich einbringen können. Darüber wurde als Zusatzschicht der Bodenaufbau mit dem Trittschall, der Bodenheizung und dem Bodenbelag montiert. Mit diesem System können wir bis 8.5 m freie Spannweite erreichen dies auch als Vorplanung für die weiteren Bauten hinter dem alten Bären.“